Kieferorthopädische Frühbehandlung: Was ist das?
11. November 2021Frühbehandlung in der Kieferorthopädie: Darunter versteht man eine Behandlung, die meist schon im frühen Grundschulalter beginnt. Aber wie sinnvoll ist das, wenn im Teenageralter trotzdem nochmal eine Zahnspange fällig werden kann? Oder ist eine feste Spange dann gar nicht mehr nötig?
Eine Zahnspange in der Grundschule oder sogar schon davor? Über den Sinn der kieferorthopädischen Frühbehandlung wurde in den letzten Jahren immer wieder diskutiert. Kritiker aus dem Gesundheitssystem und sogar einige Kieferorthopäden stellen die Wirtschaftlichkeit und den medizinischen Nutzen einer solchen Behandlung infrage. Ein beliebtes Argument: Die Behandlungsergebnisse einer Frühbehandlung seien nicht stabil, sodass im Jugendalter sowieso eine Hauptbehandlung fällig werden kann. Die Frühbehandlung würde also lediglich Kosten verursachen, ohne langfristigen Nutzen zu bieten, so die Kritiker.
Kieferwachstum lenken und Schäden verhindern
Dass zusätzlich zur Frühbehandlung eine Hauptbehandlung notwendig werden kann, muss aber keineswegs bedeuten, dass die Frühbehandlung zwecklos war. Ausgeformte Zahnbögen und ästhetisch ansprechende gerade Zähne haben bei einer Frühbehandlung nämlich nicht oberste Priorität, auch wenn sie ein positiver Nebeneffekt sein können. Vielmehr dient die Frühbehandlung dazu, schädliche Einflüsse auf das Kiefer- und Gesichtswachstum auszuschalten und so das Wachstum des Kindes schon früh in die richtige Richtung zu lenken. Eine Hauptbehandlung kann dadurch nicht immer vermieden werden, wird aber vereinfacht und oft in Umfang und Dauer erheblich reduziert.
Was sind solche schädlichen Einflüsse?
Natürlich sind es Habits wie exzessiver und langfristiger Schnuller und Daumengebrauch oder eine Einlagerung der Unterlippe hinter die oberen Frontzähne. Es sind aber auch ungünstige Muskelkräfte. Im Mundbereich bilden die Muskelkräfte von Lippen und Wangen außen und der Zungen innen ein Kräftepaar. Dazwischen befinden sich die Zähne. Ein physiologischen Kräftegleichgewicht besteht, wenn die Lippen geschlossen sind und die Zunge oben am Gaumen ist. Dann wachsen die Kiefer richtig, d.h. breit genug und alle Zähne haben genügend Platz.
Da Kiefer nur bis zum 9. Lebensjahr in die Breite wachsen, gilt es, dieses Wachstum rechtzeitig durch die Beeinflussung des Kräftegleichgewichtes rechtzeitig positiv zu beeinflussen. Eine Hauptbehandlung kann dadurch nicht immer vermieden werden, die Extraktion von bleibenden Zähnen aber oft vermieden werden. Auch kann, wenn überhaupt notwendig, eine spätere Behandlung vereinfacht und in Umfang und Dauer erheblich reduziert werden.
Einige stark ausgeprägte Formen von Zahn- und Kieferfehlstellungen erfordern zudem ein frühes Eingreifen, um das Fehlwachstum überhaupt kieferorthopädisch beeinflussen zu können. Das gilt vor allem für eine Progenie, also ein ausgeprägtes Unterkiefer-Wachstum. Werden solche Fehlstellungen zu spät erkannt, ist das Wachstum des Kindes für eine alleinige kieferorthopädische Behandlung schon zu weit vorangeschritten. Dann bleibt nur noch eine Operation im Erwachsenenalter.
Verletzungsrisiko von vorstehenden Zähnen minimieren
Doch nicht nur zur Verhinderung oder Vereinfachung einer Zweitbehandlung ist ein frühes kieferorthopädisches Eingreifen sinnvoll. Jedes vierte Kind erlebt mindestens einmal im Leben ein sogenanntes Frontzahntrauma, also einen Sturz auf die vorderen Schneidezähne. Zähne können dabei abbrechen oder sogar ganz verloren gehen. Das Risiko für eine solche Verletzung ist umso höher, je größer der Abstand zwischen Ober- und Unterkieferzähnen ist. Die Verletzung fällt außerdem schwerer aus, wenn die Zähne nicht gewohnheitsmäßig von den Lippen bedeckt sind. Also auch aus diesem Grund ist ein früher Behandlungsbeginn mit Herstellung eines physiologischen Muskelgleichgewichtes einschließlich Lippenschlusses sehr wichtig.
Kieferorthopädie kann mehr als Zahnspangen
Zusammenfassend kann man sagen: Form und Funktion gehören eng zusammen! Ohne korrekte Funktion der Muskulatur – auch Myofunktion genannt – lässt sich kein physiologisches Wachstum erreichen. Genauso ist bei bestimmten Zahn- und Kieferfehlstellungen keine korrekte Muskelfunktion möglich. Es empfiehlt sich daher in den meisten Fällen, nicht nur frühzeitig kieferorthopädisch die Zahn- und Kieferfehlstellung, sondern auch die Myofunktion mithilfe der Logopädie zu behandeln.
Myofunktionelle Kieferorthopädie: Natürlich gesunde Zähne und Kiefer
Abgesehen von einer korrekten Muskelfunktion der Gesichts- und Kaumuskulatur bringt die frühe kieferorthopädische Therapie noch weitere Vorteile: Durch das frühzeitige Einstellen eines natürlichen Bisses wird das Risiko von Fehlbelastungen einzelner Zähne oder Zahngruppen minimiert. Damit kann einer späteren CMD (Craniomandibuläre Dysfunktion) auf diese Weise vorgebeugt werden.
Außerdem lassen sich gerade Zähne leichter und gründlicher putzen. In der Folge entstehen weniger Karies, Zahnfleischentzündungen und Parodontitis. Eine aktuelle Studie weist darauf hin, dass Menschen mit einer Rücklage des Unterkiefers und mit vergrößerter Frontzahnstufe (zu großem Abstand zwischen Unter- und Oberkiefer-Frontzähnen) ein erhöhtes Kariesrisiko haben.
Und nicht zuletzt spielt auch die Ästhetik selbst eine wichtige Rolle: Eine schöne Zahnstellung, ein ausgeglichenes Profil und ein harmonischer Gesichtsaufbau haben einen unbestreitbar positiven psychologischen Effekt und bedeuten einen Zugewinn an Lebensqualität. Dennoch ist das nicht der Hauptgrund für eine kieferorthopädische Behandlung, insbesondere früh im Grundschulalter. Sie hat vielmehr einen funktionell-medizinischen Hintergrund. Denn die kieferorthopädische Frühbehandlung kann Schäden verhindern, bevor sie entstehen.
Schon früh zum Kieferorthopäden!
Fachzahnärzte für Kieferorthopädie sind die Spezialisten für das Kiefer- und Gesichtswachstum. Sie können schon sehr frühzeitig Fehlwachstum diagnostizieren und durch einfache Maßnahmen entgegenwirken. Alle Kinder sollten wenn möglich schon im Alter von 4 Jahren, also noch vor der Einschulung, in einer kieferorthopädischen Fachpraxis vorgestellt werden – damit Sie auch sicher nichts verpassen. Die gesetzliche Krankenkasse (GKV) beteiligt sich leider nur bei extremen Fehlstellungen wie einem Kreuzbiss oder einer Frontzahnstufe größer 9mm an einer Frühbehandlung, d.h. „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“. Trotzdem kann in vielen Fällen ein frühzeitiges Eingreifen für die Entwicklung der Kiefer und des Gesichtes sinnvoll sein (siehe auch mykie.de).
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